Fotografien sind immer Stillleben, denn sie halten das bewegte Leben fest, frieren es auf einer zweidimensionalen Fläche ein. Vielleicht deshalb hat sich die Fotografie immer ein wenig schwer getan, wenn sie stilles, unbewegtes Leben, wenn sie bereits „tote Natur“ nochmals einfriert, mitAusnahme von Architektur, von Aufnahmen geometrischer Objekte.
Raymond Meier bewegt sich mit seinen neuen, auftragsfreien Stillleben also in einem heiklen, delikaten Bereich, in dem man schnell auf Glatteis geraten kann. Ein Feld, das die Malerei in der Geschichte des Abendlandes in der Regel besser bedient hat, vor allem deshalb, weil sie die tote Natur wiederzubeleben versucht. Der Gegenstand seines Interesses ist nicht das Motiv des Bildes. Das gewählte Motiv ist nur Anlass, über dasBildwerden, über die Beschaffenheit und Struktur von fotografischen Bildern nachzudenken. Das eigentliche Interesse ist die Bildwerdung, sind Fragen, wie Gegenstände sich im Bild zueinander verhalten, wie sie sich ordnen, wie sie sich präsentieren, wie sie wahrgenommen werden. Plexiglaskörper scheinen zu verschwinden, sich fast gänzlich aufzulösen, einzig sich überlagernde Schatten von mehreren Körpern „erzählen“ von ihrem Noch-Hiersein. Von Morandi-Gemälden abgeleitete und analysierte Farbflächen ordnen sich in unscharfer, abstrakter Weise auf der Bildfläche an, doch beim Zurückweichen des Betrachters schärfen sich die Flächen und entwickeln im Spiel von scharf und unscharf, ein fast körperliches, ein atmendes Spiel. Eine Rolle schwebt gleichsam im Bild, sie liegt auf und fliegt zugleich, ihr Atem scheint zu stocken, Jetztzeit will Ewigkeit miteinschliessen.
Ein Spiel also von unterschiedlichen Formen in der Bildfläche, im Bildraum, von Materialien, opaken und transparenten, weichen und harten, matten und glänzenden, von zwei sich überkreuzenden Lichtquellen „belebt“ und in Szene gesetzt. Vorhandene, wahrgenommene, aber auch ersetzte, konstruierte, gerenderte Erscheinungen. Digitale Abstraktionen/Konstruktionen, ein zweites Verkünstlichen des schon eingefrorenen Realen. Das Spiel ist eröffnet, die Regeln werden neu definiert und erprobt, Grenzen fordert lediglich der Bildrand ein.
Urs Stahel, August 2013